Das ist das Plus für den 20. November.
Gescheitert – Buß- und Bettag
Ich glaube, wenn Gott eines nicht ist, dann konsequent. Zumindest nicht in dem Sinn, wie man darüber in Erziehungsratgebern liest: dass sie nötig sei, damit den Kindern bewusst wird, was passiert, wenn … ja, wann eigentlich? Wenn sie sich nicht an unsere Regeln halten? Denn dass etwas »Folgen« haben kann, das verstehen sie eigentlich ziemlich schnell und auf ganz natürliche Art und Weise. Ohne »Konsequenzen«, wie Strafen heute gerne genannt werden. Dass das Eis in der Sonne schmilzt, wenn man es nicht schnell genug aufschleckt. Dass Papa vielleicht die Lego-Landschaft aus Versehen durcheinanderbringt beim Staubsaugen, wenn man sie nicht vorher in Sicherheit bringt. Dass der Kuchen schon angeschnitten ist, wenn man zu spät bei Oma ankommt. Das Letzte, was ein Kind dann braucht, ist der Satz: »Habe ich Dir doch gleich gesagt.« Diese elterliche Überlegenheitsgeste kann man sich einfach sparen. Man muss Kindern also keine Konsequenzen androhen, falls sie das oder jenes nicht machen, »damit sie es lernen«. Ich mache das trotzdem manchmal, und zwar aus lauter Überforderung: »Wenn Du jetzt nicht, dann …!« Ich hasse mich, wenn ich das sage. Weil ich in diesem Moment einfach nur nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Und mir damit außerdem den Stress auflaste, dass ich meine Ankündigung danach auch noch durchziehen muss. Denn sonst bin ich ja inkonsequent. Und das wäre ja dann … ja, was eigentlich? Ein Zeichen von Schwäche? Oder einfach das Eingeständnis, dass ich vorher überfordert war, von meinen eigenen Emotionen mitgerissen eine sinnlose Ansage gemacht habe?
Es ist entlastend, manchmal zu sagen: »Das war blöd von mir und deshalb kommt heute nach A nicht B und nach ›wenn‹ nicht ›dann‹. Sondern ich umarme Dich und Du drückst mich fest.« Manchmal habe ich den Eindruck, wir beschreiben auch die Beziehung Gottes zu den Menschen als eine Art Erziehung, als Elternschaft. So wie Gott Vater und Mutter genannt wird, die Geborgenheit und Sicherheit schenken soll, lasten wir es Gott auf, dass er konsequent zu sein hat. Und dazu gehört nach unserem menschlichen Verständnis, dass wir Konsequenzen zu erwarten haben.
Dann stehen wir da wie die Menschenmenge in der biblischen Geschichte von der Ehebrecherin: Sie hat ihren Mann betrogen, und Jesus soll gefälligst das Urteil über sie sprechen. Eines, das bleibt. Das sie spürt. Schläge vielleicht, öffentlicher Hohn, der in den Ohren gellt. Jesus schreibt sein Urteil auf. Mit den Fingern im Sand. Ein Wind kommt auf und die Schrift verwischt. Ein vergängliches Urteil. Ist das überhaupt eines? Wer weiß schon, was er geschrieben hat? Niemand konnte es lesen. Ich höre den Wind über den Sand fegen, und kleine Sandkörnchen knirschen zwischen meinen Zähnen. Die Angst der Frau. Ihre Tränen, ihre kalten Hände. Ihre Verzweiflung. Knirschen wie Sand und brennen in den Augen. Sie weiß immer noch, wie sich Schuld anfühlt. Dafür braucht sie keine Strafe. Und wer weiß, was sie noch trägt in ihrem Schweigen? Wer an ihr schuldig geworden ist?
Die Momente in unserem Leben, die wir bereuen: als wir nicht da waren; als wir gern mutiger gewesen wären oder stärker oder einfach anders. Sie sind immer noch da. Sie verschwinden auch nicht so schnell. Ein zerknirschtes Herz, eines, bei dem man den Sand noch spürt, das nennt Luther die »Reue des Herzens«. Er sagt, das braucht es für eine ernst gemeinte Buße. Eine Beichte. Buße und Beichte gab es damals noch im Beichtstuhl, in dunklen Kämmerchen mit Vorhang. Dahinter jemand, der als Konsequenz Vaterunser und Ave Maria auferlegt.
Heute gibt es immer noch Buße und Beichte. Aber ohne Beichtstuhl und so oft auch ohne Gegenüber. Es knirscht in uns. Unser Kopf ist voll von Gedanken, Reue. Es ist unglaublich schwer und anstrengend. Und da ist keiner, der Ave Marias verteilt, und keiner, der Vergebung verspricht. Nein, auch das nicht. Ich glaube, wir brauchen keine zusätzlichen Konsequenzen, Strafen und Auflagen, wenn wir an uns und unserem Leben gescheitert sind. Es tut weh genug. Und es wird noch lange wehtun. Jesus schreibt in den Sand ein vergängliches, verwehtes Wort. Vielleicht schreibt er auf, was alles wehtut, was alles anders hätte sein müssen. Dann kommt der Wind und der laut ausgesprochene Satz: »Und jetzt geh und mach es nicht mehr!« Schwer genug und trotzdem voller Gnade. »Und jetzt geh.«
In den Buß- und Bettaggottesdiensten an einem Mittwochabend ist die Kirche meistens ruhiger und dunkler als an einem Sonntagmorgen. Da steht das Kreuz. Da stehen vielleicht Brot und Wein. Und eine ganze Menge Menschen, denen das Herz schwer ist. Ich würde gern einen Sandkasten dazustellen. Zum Reinschreiben und zum Verwischen.
- Im November sind Spielplätze meist unwirtliche Orte. Es ist matschig, kalt und Erwachsene tragen für gewöhnlich keine Matschhosen. Geh trotzdem hin, denn Du brauchst einen Sandkasten. Such Dir einen Stock, irgendetwas liegt bestimmt herum.
- Schreibe in den Sand, was Dir das Herz schwer macht. Verwisch es wieder. Vielleicht musst Du das ein paarmal tun. Vielleicht nimmst Du einen heißen Tee oder Kaffee mit und setzt Dich ein bisschen auf die Bank. Geh wieder nach Hause und wärm Dich auf. Du hast etwas Wichtiges getan.
Aus: Sabrina Wilkenshof: Wie man den Staub von der Hoffnung putzt. Alte Feiertage in neuem Glanz, Vier-Türme-Verlag 2023