Das ist das Plus für den 06. November.
Hier findest Du heute die Vorlage für deine Lichtideen zum Ausdrucken sowie eine Lichtgeschichte zum Anhören:
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Das Meer aus Licht
Geschichten vom Licht, egal ob von Himmelslicht, Regenbögen oder Kerzenflammen, sind tückisch. Solche Geschichten ziehen ungefähr so zuverlässig Kitsch an wie die Motten das Licht. Erst recht, wenn es gleich um ein ganzes Meer aus Licht gehen soll.
Aber was soll ich sagen, wahre Geschichten kann man sich ja nicht aussuchen. Auch als Autorin nicht, wahre Geschichten sind, wie sie eben sind. Und ich liebe wahre Geschichten, bei denen kann niemand am Ende einwenden: Ist halt nur eine Geschichte, das richtige Leben ist nicht so. Eben doch, das Leben kann auch so sein. Das Leben kann z.B. ein ganzes, veritables Meer aus Licht hervorbringen. Hat es auch, 2016, um genau zu sein. Diese Geschichte will ich hier erzählen.
Sie beginnt im Winter 2015/ 2016. Genau gesagt, frühmorgens und mit einem Frühstück. Damals war ich Elternvorsitzende an einer weiterführenden Schule. Und wir sorgten uns um immer mehr Kinder, die zur großen Pause im Sekretariat erschienen, über „Bauchweh“ klagten und nach Hause wollten. Und wie so oft, fängt auch diese Geschichte über Licht finster an. Denn schnell war klar, die Kinder hatten kein Bauchweh – sondern Hunger. Hungrige Kinder sind ein Elend, das sollte es nicht geben. Zudem können hungrige Kinder auch gar nicht lernen. In den Schulgremien gab es alle möglichen Reaktionen auf die hungrigen Kinder. Ich fand: Eltern erzieht man nicht, man versucht einfach, den Kindern zu helfen. Das haben wir getan. Und über ein Frühstück vor Schulbeginn in der Schule nachgedacht. Spendengelder hatten wir schnell, doch wer sollte da um 7 Uhr in der Früh stehen, Brote schmieren und Kakao kochen? Damals gab es zwar eine sehr engagierte Elternschaft – aber gerade die engagierten Eltern machen ihren Kindern ja selbst Frühstück oder sind schon zur Arbeit weg. Wir brauchten also Menschen mit Zeit. Viel Zeit, viel zu viel Zeit hatten damals die vielen geflüchteten Menschen, die 2015 angekommen waren und in Turnhallen auf Behördentermine warteten. Es gab zwar viele Bedenkenträger in der Schulgemeinde, Geflüchtete, die früh pünktlich da sein sollen? Ich fand, es war den Versuch wert. Wir gingen also in die Turnhallen, hingen Zettel ans schwarze Brett, sprachen mit Menschen aus den Sozialdiensten, erklärten unsere Idee in einer Runde mit Menschen aus aller Welt und machten uns an die Arbeit. Nicht ohne ein Versprechen: Wer für unsere Kinder früh aufstand und uns Zeit schenkte, dem wollten wir unsere geballte Schulunterstützung schenken.
Bald gab es morgens den ersten Kakao, kamen die ersten Kinder, die Zeitungen berichteten und Spendengelder flossen. Aber viele blieben den Geflüchteten gegenüber skeptisch, sahen sich bestätigt, wenn morgens die Frühstückstheke doch mal verwaist blieb. Eines Tages waren zwei besonders zuverlässige junge Geschwister aus Syrien nicht gekommen. Ich wollte wissen, warum, und fuhr kurzerhand ins Flüchtlingsheim, fand in ihrem Zimmer neben den beiden älteren, Bruder und Schwester, auch noch eine völlig verweinte 12-Jährige. Was passiert war? Die ganze Nacht über war Aleppo bombardiert worden und die drei bangten um ihre gehbehinderte, verwitwete Mutter, die nicht hatte mit fliehen können, und eine weitere Schwester, die bei der Mutter geblieben war. Kein Wunder, dass in dieser Nacht frühmorgens niemand ans Schulfrühstück dachte.
Während die Jüngste noch lange in meinen Armen weiter weinte, stahl die Geschichte sich in mein Leben, schlug unmerklich ein neues, das zweite Kapitel auf. Auf einmal war der ferne Krieg in Aleppo ganz nah. Als ich in jenem Jahr gebeten wurde, für den gerade verstorbenen Menschenrechtsaktivisten und Journalisten Rupert Neudeck bei einer Friedens-Moderation einzuspringen, stellte ich die drei Geschwister auf die Bühne, ließ die Mutter übers Telefon zuschalten. Plötzlich hörten alle im Publikum Schüsse, hörten alle im Publikum den Krieg. Die Mutter dankte den Menschen, die auf ihre Kinder in der Ferne aufpassten. Die Menschen im Publikum fragten, wie die Familie wieder vereint sein könne? Nun, das war eigentlich ganz einfach, denn die Jüngste hatte als Minderjährige ein Recht auf Familiennachzug der Mutter. Die ebenfalls minderjährige Schwester, die in Aleppo geblieben war, hatte aber auch ein Recht auf ihre Mutter – und so hätten beide eigentlich kommen dürfen.
Im Krieg gibt es kein „eigentlich“. Mutter und Tochter schafften es nicht über die Grenze in die Türkei, ja schafften es nicht mal aus Aleppo raus. Die Tage und Wochen vergingen, die Familie verzweifelte immer mehr. Wir erzählten die Geschichte auf Friedensveranstaltungen weiter. Oft stellten wir Kerzen auf.
„Sind Kerzen wichtig in Eurer Religion?“, fragte mich die Älteste auf dem Rückweg von einem Friedensgebet für Syrien in unserer Dorfkirche. In diesem hatte die junge Muslima auf arabisch, englisch und etwas deutsch den großen Gott angerufen, der alles erschaffe, was sei, bat um Vergebung und um Frieden für Mutter und Schwester in Aleppo. Zur gleichen Zeit tobte die Schlacht um die Stadt.
Kerzen gegen Trümmer? Ernsthaft? Auf dem kurzen Fußweg nach dem Friedensgebet war ich in Erklärungsnot – die junge Frau erwartete meine Antwort geduldig und aufmerksam. Endlich sage ich: „Das Licht verspricht: Es wird wieder hell werden. Die Finsternis, das Böse hat nicht das letzte Wort.“ Wenn ich heute so drüber nachdenke – steile These, gewagte These. Ist das so? Hat das Böse nicht das letzte Wort? Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht, natürlich nicht. Aber es ist das, was ich damals antwortete. Die junge Frau nickte.
Schon lange war es Winter geworden. Und die Geschichte verlangte nach einem dritten Kapitel. In Aleppo fielen nicht nur (Fass-)Bomben vom Himmel, sondern auch Flugblätter. Darin erklärte der große Diktator seinem Volk, dass die Welt es vergessen habe. Als ich von diesen Flugblättern las, packte mich ein so gewaltiger wie hilfloser Zorn, befiehl mich ein ebenso gewaltiger Trotz. Nein! „Die Welt“ hatte Aleppo nicht vergessen. Aber Zorn hin, Trotz her – was sollte ich, was konnten wir schon tun? Da fielen mir die Kerzen wieder ein. Ich wusste, die Familie war über Facebook verbunden. Wenn wir also dort Bilder einstellten, konnten zumindest Mutter und Tochter in Aleppo sehen, dass sie nicht vergessen waren. Und mit ihnen ja vielleicht auch noch ein paar andere Menschen. So machten wir uns an die Arbeit, baten Menschen, Kerzen anzuzünden und uns die Fotos zu schicken. Die Resonanz war überwältigend. Plötzlich machten überall Menschen mit, nutzten die Weihnachtsfeier und gaben jedem Angestellten eine Kerze in die Hand, es gab Andachten und Aktionen. Wir bekamen Bilder mit Kerzen aus Nepal und Indien, aus Afrika und Südamerika und es gab auch ein Video mit all diesen Bildern in einem Kölner Stadion beim Weihnachtsliedersingen vor Zehntausenden Zuschauern. Ein wahres Meer aus Licht in einer wahren Menschenmenge.
Und wenn das Mut machen und irgendwie doch Hoffnung geben sollte, dann gelang das auch ein wenig. Kurz vor Weihnachten schrieb die Mutter einen sehr bewegenden Brief – und schickte das anrührendste Foto von allen. Rund 30 Kerzen, der gesamte Kerzenvorrat der Mutter, brannten darauf. Und das, obwohl es damals keinen Strom gab.
Wäre das ein Weihnachts-Hollywood- Film, dann hätte sich zur Heiligen Nacht 2016 wohl die Familie in den Armen gelegen. Aber mit Kitsch will ich nicht nur, sondern kann ich auch nicht dienen. Die Schlacht um Aleppo ging verloren, Mutter und Schwester hingen fest. Es gab Ideen und misslungene Versuche, aber von Flucht konnte keine Rede sein. Dafür stellte sich immer lauter die Frage: Wie weiter hoffen?
Es wurde zwar Frühling. Das vierte Kapitel aber macht wenig Freude. Weder die Knospen an den Bäumen, noch die Kerzen konnten weiterhelfen. Selbst als der Krieg in Aleppo nachließ, türmten sich die Hindernisse: die Grenze zur Türkei war geschlossen. Wie aber sollte dann das Visum für den Familiennachzug in Izmir beantragt werden? Wochen wurden zu Monaten.
Wie an vielen Donnerstagen damals, kamen die drei Geschwister zum Abendessen. Wir kochten, aßen, lasen Zeitung und redeten über die Woche. “Alle Wünsche auf unserer Karfreitagskerze haben sich erfüllt, nur der für Eure Familie nicht”, kopfschüttelnd zeigte ich den drei jungen syrischen Geschwistern unsere Tischkerze, die wie immer in der Mitte des Esstisches brannte. Jedes Jahr zu Karfreitag gestalten wir gemeinsam eine neue, jedes Jahr erscheinen unsere Wünsche und Hoffnungen als mehr oder weniger kunstvolle Bilder, begleiten uns, von innen angeleuchtet, ein ganzes Jahr. Inständig wünschte ich in jenem Jahr, dass diese vom Krieg gebeutelte syrische Familie endlich wieder vereint sei. Auf leuchtendblauem Wachs klebte ich ein Dach aus zwei Flaggen: links die syrische, rechts die deutsche, darunter fünf winzige goldene Kügelchen – für jeden Kopf der Familie eines. Gold auf blauem Grund als Sinnbild für das Europa, das immer noch den Schutz der Menschenrechte gewährt.
Das schützende Dach auf unserer Kerze war schon ganz eingeschmolzen, als wir mit den Geschwistern zu Abend aßen. Die Augen der Jüngsten waren dunkel vor Schmerz. Mit zwölf Jahren hatte sie sich von ihrer Mutter getrennt, über zwei Jahre war das schon her. Ich sah den Schmerz, wusste keinen Ausweg. Sagte dennoch: Wir geben nicht auf.
Das war die einzig noch verbliebene Hoffnung: Nicht aufgeben. Einfach weil aufgeben keine Option war. Die Geschwister entwickelten wilde, wenig legale Ideen, die sie zum Glück nicht umsetzten.
Im Sommer die gute Nachricht: Die zwei Frauen schafften es über die Grenze in die Türkei. Nur ein kurzer Lichtblick. Denn die deutsche Botschaft in Izmir hatte zum einen sehr, sehr lange Wartezeiten für einen Termin auf Familienzusammenführung, in der Wartezeit tauchte zum anderen ein neues Problem auf: Die zurückgebliebene Schwester feierte ihren 18. Geburtstag. Als Volljährige aber durfte sie nicht mehr mit ihrer Mutter einreisen. Und jetzt?
Wurde es Herbst, fast Winter schon. Am ersten Adventssonntag besuchte ich die drei Geschwister, auf ihrem Sofa im Niederrheinwohnzimmer warteten die drei sehnsüchtig. Und traurig. Niemand wollte eine Kerze anzünden. Mein Herz war, schon wieder, schwer: Ich kann doch auch keine Hoffnung backen! Plötzlich schillert etwas in meinem Augenwinkel. Als ich den Kopf drehte, leuchtete ein kompletter Regenbogen am Himmel. Mir war, als sandte mir der Himmel eine Erinnerung und ich schämte mich ein wenig: nicht aufgeben war doch die Parole gewesen. Wir schickten der Mutter Regenbogen-Fotos und erzählten in einer Sprachbotschaft vom Versprechen des Regenbogens. Für einen Moment spannten Himmel und Handy genug Hoffnung, um nicht ganz zu verzweifeln.
Nicht aufgeben kann harte Arbeit sein. Das fünfte Kapitel watet durch ein Tal von Vergeblichkeit. Unzählige Briefe, Eingaben, E-Mails, Telefonate und Gespräche warteten noch auf uns, aber irgendwann, im Januar 2018, um genau zu sein, kam der erlösende Brief aus Berlin. Das sechste Kapitel beginnt mit einem zeitgleichen Freudenschrei am Niederrhein und in der Türkei. Eine Ausnahmeregelung war gefunden (mehrere Politiker verschiedener Parteien spielen eine bemerkenswerte und wunderbare Rolle dabei, einer der vielen Gründe für mich, „die Politik“ immer wieder zu verteidigen), auch die Schwester durfte einreisen, bekam aber keinerlei Sozialleistungen. Im Februar war es dann soweit. Der Flug war gelandet, das Symbol fürs Kofferband schon erloschen. Angespannt blickten die drei Geschwister auf eine Ankunftstür am Flughafen Düsseldorf, die sich mit leisem Zischen beständig öffnete und schloss und mir wie ein Sinnbild für die letzten Jahre vorkam. Andauernd gab es Hoffnung, die Tür ginge auf, andauernd wurde die Hoffnung vom Leben, vom Krieg, von der Politik überholt und die Tür wieder zugeschlagen. Und immer noch kein Ende, schon kamen die Passagiere des nächsten Fluges an. Da geht erst die Tür und dann die Sonne auf: Die Tochter erschien mit einem Gepäckwagen, dahinter die Mutter. Zwei Jahre, fünf Monate und zehn Tage war die Familie getrennt.
Über sechs weitere Jahre sind inzwischen vergangen. Zeit für das Nachwort. Die beiden jüngeren Schwestern haben Abitur gemacht und studieren, die beiden älteren Geschwister, die schon in Syrien ihre Studien begonnen und hier wieder aufgenommen hatten, haben diese abgeschlossen und bereichern Deutschland als Apotheker und als Biomedizinerin. Alle vier Geschwister haben ihr Leben, mit allen Höhen und Tiefen, wieder selbst in der Hand. Die Mutter hat sich am Niederrhein eingelebt, arbeitet natürlich nicht mehr als Schulleiterin wie in Aleppo, aber hilft in der hiesigen Grundschule Kindern beim Deutschlernen.
Wenn ich heute an diese Zeit denke, spüre ich immer noch die Anspannung, die Anstrengungen und die Aussichtslosigkeit. Doch noch mehr staune ich darüber, dass wir so viele waren. So viele Verbündete, so viele Hände, so viele Herzen im Bund. So viele, wie Kerzen im Lichtermeer.
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